Utes Texte

Der Schlüssel zur Ruhe

Ich kam vom Spaziergang mit Emma heim, öffnete die Haustür und ließ meine Hündin in die Diele.
Seit dem Morgengrauen schneite es ununterbrochen, mir war trotz kräftiger Bewegung eiskalt. Dagegen hatte ich mich mit dicker Winterjacke und drei Unterhosen unter meiner Skihose gewappnet und freute mich nun auf einen heißen, dampfenden Kaffee und mein Müsli. Schon holte ich Schlüssel, Handy und Portemonnaie aus meinen tiefen Parkataschen und legte alles auf die Kommode im Eingang, bevor ich die Jacke ausziehen wollte.

Dabei fiel mein Blick auf den Schlüsselbund der Nachbarn, die für eine Woche verreist waren und deren Briefkasten ich täglich leeren sollte. Sie hatten für heute ihre Rückkehr geplant, also schnell noch mal nach dem Rechten sehen. Ich nahm das Bund und meinen Briefkastenschlüssel vom Bord und stand schon wieder vor der Tür. Ich wollte nur eben beide Briefkästen leeren. Während ich schon die Haustür zuzog, schoss es mir noch kurz durch den Kopf: ‚Hast du überhaupt den Hausschlüssel? Ja, klar, zwei Schlüsselbunde fühlst du in der Hand.' Schon war die Tür ins Schloss gefallen. Und ich....... war ausgesperrt!
Kein Ersatzschlüssel in der Garage oder bei einer Nachbarin, wie ich es früher, als die Kinder noch kleiner waren, organisiert hatte. Seit Liesa, meine Tochter, ihren Hausschlüssel verloren hatte, gab es keinen Ersatzschlüssel mehr, den man in einem Blumentopf oder unter einem Stein im Garten oder unter der Türmatte.... . Ach, mir fielen gleich so viele schöne Verstecke ein. Wenn ich jetzt auf eines davon zurückgreifen könnte......

Wie gelähmt stand ich vor meiner Haustür, während sich meine Gedanken überschlugen. In einer Stunde müsste ich meinen Unterricht antreten. Auch sollte ich vorher etwas anderes anziehen, denn ich trug ja noch meine Hunde-Ausführ-Tiefstwinter-Kleidung. Außerdem war ich für die Fahrt zur Schule auf mein Auto angewiesen. Mein Autoschlüssel befand sich ebenfalls am Hausschlüsselbund, der jetzt auf der Kommode in der Diele lag.
Meine Emma hatte noch kein Frühstück bekommen, aber das würde sie als wohlgenährte Berner Sennenhündin locker überstehen. Ich hatte noch die Waschmaschine einschalten wollen, kurz Staub saugen, eine dringende e-mail schreiben und, und, und. Das konnte ich jetzt alles vergessen! Mein ganzer Plan für heute war hinfällig. Verdammt!

Also, kühlen Kopf bewahren, Ute, was machst du jetzt?
Als letzte Möglichkeit blieb, wie schon einmal, das kleine Badfenster zu zerschlagen. Aber das war auch die teuerste und aufwändigste Lösung.
Ich musste erst mal in Ruhe überlegen. Wo kann ich das, am besten im Warmen?
Ach ja, bei Martina. Ich lief zu meiner besten Freundin Martina, Montags morgens war sie meist zu Hause. Nach fünf Minuten, ein strammer Fußmarsch den Berg hinan, stand ich vor ihrer Tür.
Und tatsächlich, ich hatte Glück. "Hi, Ute, komm rein auf einen Cappuccino," rief sie mir freudig entgegen, in der Annahme, ich käme kurz mit den neuesten Ereignissen der vergangenen Woche. Sie kochte mir den dampfenden Kaffee, den ich mir eigentlich bei mir zu Hause gönnen wollte.

"Martina, ich hab mich ausgesperrt," sprudelte ich gleich los. Martina hat immer die besten Ratschläge und ist in Not-Situationen total ruhig und bedacht. "Jetzt trinkst du erst deinen Kaffee. Du kannst mein Auto haben, ich brauche es heute morgen nicht," bot sie mir gleich an.

"Ich glaub, ich muss mal telefonieren, Martina. Darf ich ....?". Sie reichte mir schon den Hörer.

Also, wen als erstes anrufen?
Meinen Mann von seinem Arbeitsplatz zu holen, war unmöglich, er befand sich heute auf Geschäftsreise. Meinen Sohn hatte ich gerade zur Klassenfahrt nach Frankreich verabschiedet.
Ich hatte ihm noch den Ratschlag gegeben, seinen Schlüssel zu Hause zu lassen und gesehen, wie er ihn ans Schlüsselbord gehängt hatte. Das war der zweite Hausschlüssel, der sich nun in unserem Hause befand.

Blieb also Liesa, meine Tochter, die gerade in der Schule war. Ich rief nun doch meinen Mann an, um ihre Handy-Nummer zu erfahren.(Natürlich hatte ich die Nummer auf meinem Handy eingespeichert, aber das lag ja auch zu Hause, auf der Kommode.)
Sie hatte ihr Handy ausgeschaltet, denn es war Unterrichtszeit. Ich hinterließ eine Nachricht auf der Mailbox und eine SMS und bat um ihren Rückruf.

"Jetzt mache ich Dir eine Kanne Tee und Du setzt dich an den PC," Martina wusste, wie sie mich beschäftigen - und beruhigen - konnte. Dann saß ich vor dem Computer und überlegte.
Martina hatte sich ihren häuslichen Aufgaben zugewandt, ich war allein, in ihrem Büro, nichts gehörte mir, was hier lag, nicht mal ein Mailprogramm warf mir neue e-mails "zum Fraß" vor. Es war still, keine Aufgaben, die ich jetzt "mal eben" erledigen könnte.

Meine Emma lag vermutlich auf unserem Wohnzimmersofa und räkelte sich. Sie war das Warten gewöhnt, bis zum nächsten Spaziergang.

Warten. Verharren, Zeit "vertun"? Nichts zu tun haben.
Waren meine ersten, negativen, Gedanken. Aber ich denke lieber positiv. Hatte ich vorhin bemerkt, es war still, nur still? Ich definierte es nun genauer; es war wunderschön still. Ich genoss die Ruhe, ich lehnte mich aufatmend in Martinas Chefsessel nach hinten und sog die kalte Luft aus dem offenstehenden Fenster ein, welches Martina kurz geöffnet hatte, um das Büro zu lüften.
Von draußen hörte ich das Glucksen des vorbeiplätschernden Bächleins.
Langsam kehrte auch in mir Ruhe ein. Es ist ein schönes Gefühl, Zeit zu haben oder besser - Zeit geschenkt zu bekommen -zumindest empfand ich es in diesem Moment als Geschenk!)

Und doch..

Zeit vergeht, heißt es. Mir vergeht sie oft zu schnell, weil ich so viele Dinge "mal eben" erledigen möchte.
Und dann wieder vergeht mir die Zeit zu langsam, dann nämlich, wenn ich auf ein bestimmtes Ereignis warte. Nie bin ich zufrieden mit dem, was ich erledigt oder erreicht habe.

Besonders in Erinnerung ist mir das Warten als Kind, als ich es schier nicht aushalten konnte, an Weihnachten, bis das Christkind klingelte. Und jetzt?

Ich sitze einfach nur da und freue mich über die Ruhe um mich. Kann ich mir das leisten?

Ist das eigentlich so wichtig, dass ich unbedingt in meine Wohnung muss und den Unterricht in nun nur noch dreiviertel Stunde halten soll? Martina kann mir zwar ihr Auto leihen, aber ist es sicher, dass ich Liesa dann in der nächsten Pause an ihrer Schule finde? Muss ich mich so hetzen?

Ich muss es nicht mehr.

Ich greife zum Telefon und sage meinen Unterricht ab.
"Nein, ich komme heute nicht, ich bin ausgesperrt." So.

Jetzt habe ich Zeit. Zeit für was? Wie kann ich solche Zeit, die ich plötzlich geschenkt bekommen habe, "sinnvoll" nutzen? Dass ich nachher nicht traurig bin, diese kostbare Zeit nicht "vertan" zu haben. Was mache ich nun?
Schreiben!!! Ja, Schreiben, endlich! Hier, im "fremden" Haus meiner Freundin, die Chance! Keine Hausarbeit, die ich unbedingt noch machen muss, keine Ausrede, noch schnell einen Kuchen backen zu müssen.
Ich sitze am Computer, trinke einen heißen Tee und logge mich ein, auf meiner Lieblingsseite, einer Schreibwerkstatt.

Meine Augen fliegen über die Autorenwettbewerbe. Da fällt mir eine Ausschreibung besonders ins Auge. Das Thema lautet: Zeit.
Na das passt ja. Meine Finger sausen über die Tasten.

Ich bin so froh, dass ich mein Hobby Schreiben gefunden habe. Ich kann in jeder Lebenslage meine Zeit sinnvoll verbringen. Selbst wenn ich jetzt kein Schreibmedium wie diesen Computer hätte, ein Blatt Papier finde ich überall.

Wie in Watte gepackt sitze ich, der Welt entrückt, am PC. Ich schreibe meine Geschichte "Der Schlüssel zur Ruhe".

Plötzlich ist es Mittag. "Hallo, Ute, lebst Du noch?" Martina steckt ihren Kopf zur Tür herein. Ich erwache aus meinem Schreib-Zeit-Traum. Schade, ich muss zurück in die Wirklichkeit. Ich muss mich nun doch um den Schlüssel kümmern. Liesa kommt gleich mit dem Schulbus, ge-sms-t hat sie mir bisher nicht, auch kein Rückruf. Sie hat ja auch kaum Zeit zwischen den Unterrichtsstunden, nur 5-Minuten-Pausen.

"Martina, ich habe die Ruhe bei dir genossen! Danke," verabschiede ich mich.
"Ja, Ute, als ich dich da so sitzen sah, vollkommen vertieft in dein Schreiben, da habe ich mir auch gewünscht, mich mal auszusperren. Dann hätte ich auch Zeit, die ich mir so nicht nehme."

Das liebe ich an Martina. Sie spricht oft genau das aus, was ich denke oder empfinde!
An jeder noch so negativen Situation findet sie gute Aspekte und formuliert diese sofort. Mir fallen solche Dinge immer erst nachher ein, wenn ich allein in Ruhe über etwas nachdenken kann. Ich umarme sie zum Abschied.

Durch die immer noch klirrende Kälte laufe ich nach Hause. Wirklich schade, ich hätte noch länger schreiben können. Nichts, was mich ablenkt! Ein echtes Geschenk.

Um fünf vor Eins stehen Liesa und ich gemeinsam vor unserer Haustür. Sie hat erst im Bus ihr Handy wieder eingeschaltet.
In ihrer Schultasche kramt sie nach dem Hausschlüssel, bis es ihr einfällt: er hängt am Schlüsselbord.


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